Zeitwahrnehmung durch Yoga öffnet einen inneren Raum, in dem Zeit nicht gemessen, sondern erfahren wird. In Momenten der Stille – wenn man die Augen schließt und tief durchatmet – kann etwas Feines zu schwingen beginnen. Es ist das Gefühl, da zu sein. Keine Aufgabe, keine Rolle, kein Ziel – nur das Spüren des eigenen Körpers, des Atems, der Präsenz. Und genau hier beginnt ein verändertes Zeitempfinden.
Zeitqualität
Unsere Wahrnehmung der Zeit ist nie objektiv. Für ein Kind kann sich ein Nachmittag unendlich in die Länge ziehen. Das Warten auf Weihnachten scheint endlos. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer, getragen von der Gegenwart. Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Wochen, Monate, sogar Jahre vergehen wie im Zeitraffer. Warum ist das so?
Eine mögliche Erklärung liegt in der Dichte der Eindrücke. Kinder erleben vieles zum ersten Mal – das Leben ist neu, aufregend, bedeutungsvoll. Erwachsene dagegen durchlaufen Routinen. Ihre Neugier ist einem durchgeplanten Alltag gewichen. Gleichförmigkeit bedeutet weniger bewusste Erinnerung, die Zeit scheint schneller zu vergehen.
Der Moment – die kleinste Einheit der Zeit

So wie das Atom das kleinste Teilchen der Materie ist, so ist der Moment die kleinste Einheit der Zeit. Jeder Moment steht für sich. Wenn viele dieser einzelnen Momente aneinandergereiht werden, entsteht das, was wir „Zeit“ nennen.
Wie wir Zeit erleben
Auch unsere innere Einstellung spielt eine zentrale Rolle. Wer sich getrieben fühlt, ständig etwas leisten muss, erlebt eine Stunde oft als zu kurz. Wer in ruhiger Präsenz lebt, erlebt dieselbe Stunde als weit und durchlässig. Er erlebt Zeit nicht mehr als lineare Abfolge von Momenten, sondern als lebendigen Raum.
Diese Haltung lässt sich trainieren. Es braucht nur etwas Übung, Geduld und die Bereitschaft, sich wirklich darauf einzulassen.
Übung als Schlüssel: Hinsetzen, sich spüren, atmen
Hier beginnt eine einfache Praxis: Hinsetzen, spüren, atmen. Keine Technik, kein Ziel – nur Wahrnehmung. Wie fühlt sich der Körper an? Wie und wo ist der Atem zu spüren? Welche Gedanken ziehen vorbei?
Mit regelmäßiger Übung verändert sich das Verhältnis zur Zeit. Eine Minute erscheint tiefer und weiter. Die Angst vor der Vergänglichkeit schwindet. Stattdessen entsteht Vertrauen – in den natürlichen Rhythmus des Lebens.
Es gibt zwei Arten, Zeit zu erleben
Die psychologische Zeit ist das ständige Denken – an gestern, an morgen, an Sorgen oder Wünsche.
Die chronologische Zeit ist die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Ein Yogi lernt, im Augenblick zu verweilen. Er lässt sich nicht vom Denken treiben. Er bleibt wach – ganz im Jetzt. So verliert die Zeit ihre Macht über ihn. Und mit dem Verschwinden des Zeitgefühls erscheint etwas anderes: Eine stille, klare Präsenz – eine erste Wahrnehmung dessen, was Seele genannt wird.
Im Jetzt leben – eine alte Wahrheit
Seit Jahrhunderten sagen Dichter und Weise: Lebe im Augenblick – das ist alles, was du wirklich hast.
Das kann man auch in der Natur beobachten: Hasen zum Beispiel sind in ständiger Gefahr und wirken dennoch lebendig und voller Lebensfreude. Sie denken nicht an den Tod, sie leben. Nicht, weil sie dumm oder einfallslos wären – sie können sehr schnell fliehen! Sondern, weil sie im Augenblick sind. Ganz da.
Viele Menschen dagegen sterben, ohne je wirklich gelebt zu haben. Sie haben ihr ganzes Leben lang Angst gehabt, sich Sorgen gemacht, an ihren Routinen festgehalten. Wer aber bewusst im Jetzt lebt, der lebt wirklich – auch wenn er irgendwann stirbt.
Das gilt sogar für die Zellen des Körpers. Wenn wir im Yoga mit voller Präsenz in einer Haltung verweilen, durchströmt das Lebendigkeit jede Zelle.
Atmung als Brücke in die Gegenwart

Die Atmung ist die Brücke zwischen Körper, Geist und Zeit. Jeder bewusste Atemzug holt einen ins Jetzt zurück. Wer tief und ruhig atmet, beruhigt nicht nur den Geist, sondern dehnt auch den Moment aus. So entsteht ein Gefühl von Weite – jenseits von Uhrzeit und Gedanken.
Freiheit im Augenblick
Das gegenwärtige Leben gleicht vielleicht einer Stadt mit nur einem Hotel. Es ist es kein Traumhotel, aber es ist das Einzige, was gerade da ist. Wenn wir ständig an das schöne Hotel von gestern denken oder vom perfekten Hotel morgen träumen, verlieren wir die Nacht, die wir jetzt haben.
Wenn wir aber das annehmen, was jetzt da ist, ohne zurückzublicken, ohne zu vergleichen, ohne zu fliehen, dann entsteht Freiheit.
Dann leben wir.
Zeit ist mehr als das Ticken der Uhr. Sie ist das, was wir aus dem Moment machen. Sie ist Spiegel unseres Bewusstseins. Je achtsamer wir sind, desto weiter und reicher wird unser Zeitempfinden – unabhängig davon, wie alt wir sind. Leben beginnt immer mit einem Moment des wahrnehmenden Da-Seins.
Michael Ende hat diese Wahrheit in seinem Buch Momo erzählt. Dort sind es die grauen Herren, die den Menschen einreden, sie müssten ihre Zeit sparen – um effizienter, produktiver, zielgerichteter zu werden. Und so beginnen die Menschen, die Zeit zu kontrollieren. Das Leben verliert Farbe, Begegnungen verkümmern, das Spiel verstummt.
Nur Momo, ein einfaches Mädchen mit einem offenen Herzen, erkennt, was wirklich geschieht. Sie lässt sich nicht hetzen, sondern lebt im Moment. Sie hört zu, sie ist da – und genau dadurch heilt sie.
In einer Welt, in der Zeit wie etwas Lineares, Planbares erscheint, erinnert Momo daran:
Dein Leben gehört dir – nicht der Uhr.
Und wer ganz gegenwärtig ist, dem kann die Zeit nicht gestohlen werden.
Die wirkliche Zeit ist nicht nach der Uhr und dem Kalender zu messen.
Alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird,
ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden
oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. ~ Michael Ende, Momo