Der ganze Mensch – zwischen Schatten und Licht

Der ganze Mensch – zwischen Schatten und Licht sagt aus, dass jeder Mensch im Spannungsfeld von Tugend und Fehlverhalten und von Integrität und Selbstverrat existiert. Wir sehnen uns danach, unsere lichten Seiten zu zeigen, das, was glänzt und Anerkennung findet. Doch solange wir den Schatten verbergen, wirkt er im Verborgenen umso stärker. Er bestimmt unser Denken, Fühlen und Handeln auf einer tieferen Ebene, oft, ohne dass wir es bemerken.

Kundalini-Yoga lehrt, dass wir durch unser Nicht-Hinschauen in einer ständigen Selbstentfremdung verharren. Wir passen uns an, verkaufen uns – nicht selten billig – für ein Stück Aufmerksamkeit, für ein wenig Zuwendung, für ein Gefühl von Zugehörigkeit. Dahinter steht das Muster, sich selbst nicht zu genügen und nicht aus der eigenen Mitte heraus zu leben, sondern sich im permanenten „Ausverkauf“ zu befinden. Der Schatten heißt hier Abhängigkeit – und er ist zugleich der Schlüssel zur Freiheit.

Jede Blockade ist ein ungehobener Schatz

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Denn in dieser Abhängigkeit, in der wir die Kontrolle über unser Inneres abgeben, liegt der Hinweis auf die eigentliche Aufgabe: wieder ganz zu uns selbst zurückzufinden. Kundalini-Yoga geht davon aus, dass jede Blockade, jede Schwäche und jeder innere Bruch nicht nur ein Problem, sondern ein ungehobener Schatz ist. Wenn wir genau dorthin schauen, wo es wehtut – in den Momenten, in denen wir uns verraten haben, in denen wir uns für fremde Erwartungen verbogen oder verkauft haben –, finden wir die Kraft, uns selbst treu zu sein. Dieser Weg führt über Shuniya, den inneren Nullpunkt, an dem Gedanken, Emotionen und Reiz-Reaktionen zur Ruhe kommen und wir unserem wahren Wesen begegnen.

Die Lehre besagt, dass unser Geist unaufhörlich Gedanken produziert – rund tausend pro Sekunde. Ein Teil davon wird zu Gefühlen, ein anderer zu unerfüllten Wünschen und wieder ein anderer sinkt ins Unbewusste. Wenn dieser unbewältigte Inhalt ins Bewusstsein drängt, entsteht Instabilität und der Mensch sucht fieberhaft nach äußeren Reizen, um sich wieder lebendig zu fühlen. Musik, Sex, Konsum, Arbeit – alles kann zum Ersatz werden. Der Schatten hierbei ist die Rastlosigkeit und das Getriebensein. Die daraus entstehende Tugend ist die Fähigkeit zur Selbstberuhigung und inneren Sammlung durch Atemführung (Pranayama), Mantra und meditative Ausrichtung.

Der Schatten als der Verlust der eigenen Identität

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Eine der größten Fallen auf diesem Weg ist das, was im Yoga oft als „Haftung“ bezeichnet wird: das Festhalten an Menschen, Rollen oder Projektionen, die uns scheinbar vervollständigen. Damit ist nicht Liebe im reifen Sinn gemeint, sondern ein Zustand der Selbstvergessenheit, in dem man sich völlig gegen die eigene innere Stimme verschenkt. Der Schatten ist hier der Verlust der eigenen Identität. Doch genau hier liegt die Möglichkeit, die Kraft der eigenen Grenzen zu entdecken und das Ich wieder in die eigene Hand zu nehmen – im Sinne von Sat Nam: die Wahrheit des eigenen Namens, der eigenen Identität, zu leben.

Der Schatten ist nicht der Feind, sondern das unentdeckte Potenzial. Das, was wir nicht anschauen wollen, wofür wir uns vielleicht schämen, ist das Rohmaterial unserer inneren Meisterschaft. Wer den Mut hat, die eigenen Muster zu erkennen – die Lügen, die man sich selbst erzählt, die Rollen, die man spielt, die Käufe und Verkäufe des eigenen Selbstwerts –, steht an der Schwelle zu echter Freiheit.

Erst wer sich in seiner Ganzheit sieht und Licht und Schatten integriert, lebt aus der eigenen Mitte. Dann muss er nicht mehr auf den ständigen Ausverkauf setzen, sondern kann warten, bis das Leben von selbst zu ihm kommt. Wer bei sich ist, muss nicht jagen – er wird gefunden.

Meditation über das Licht – eine Tratakam-Meditation

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Setze dich in eine bequeme, meditative Haltung mit gerader Wirbelsäule. Forme mit beiden Händen eine Schale, indem du die Finger und Daumen aneinanderlegst, als wolltest du daraus Wasser trinken. Halte die Hände in dieser Position auf Herzhöhe, die Ellbogen sind entspannt. Atme normal. Die Augen sind geschlossen und auf den Brow-Point gerichtet, das ist der Punkt zwischen den Augenbrauen an der Nasenwurzel.

Stelle dir vor, du hältst eine Kerze, deren Flamme genau vor deinem Brow-Point brennt. Stelle dir dann vor, du selbst bist die Kerze. Danach: Du bist die Flamme. Schließlich stelle dir vor, du bist der Beobachter der Meditation. Du bist der Meditierende, das Objekt der Meditation und der Beobachter zugleich.

Beginne mit elf Minuten und verlängere die Zeit allmählich, solange es dir angenehm ist. Diese Übung schult die Konzentration, verbindet dich mit deinem inneren Licht und hilft dabei, das Beobachter- und das Erlebnisbewusstsein zu vereinen.

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